Andras Kállai, Delaine Le Bas, Tamara Moyzes, André Jenö Raatzsch, Alfred Ullrich
VIDEO.ART.ACTIVISM.
Zeitgenössische Positionen der Sinti und Roma in der Videokunst
22. Februar - 12. April 2013
András Kállai . Delaine Le Bas . Tamara Moyzes 
Andre Jenö Raatzsch . Alfred Ullrich


Mit VIDEO.ART.ACTIVISM. präsentiert die Galerie KAI DIKHAS einen Überblick aktueller künstlerischer Medienkunstpositionen zwischen Performance-Dokumentation (Alfred Ullrich), Video-Kunst (Delaine Le Bas, Andras Kallai & André Jenö Raatzsch) und politischem Kunst-Aktivismus (Tamara Moyzes).

Videokunst ist aus der Demokratisierung der technischen Möglichkeiten des Filmemachens entstanden. Mal abstrakt, mal als Dokument flüchtiger, performativer Aktionen hat sie sich zu einem eigenständigen Medium entwickelt, welches sich auch die Künstler der Sinti und Roma zu Eigen machen. Videokunst dramatisiert das Alltägliche, ästhetisiert oder dämonisiert das scheinbar Banale, hält den flüchtigen Moment für immer fest. Nichtgreifbares wird fassbar, das eigentlich Unwiederholbare beliebig repetierbar. Privates wird zur Kunst erhoben, politische Aktion erfährt durch die Aufzeichnung eine Grenzerweiterung, die das rein dokumentarische übersteigt, das Aussagefeld erweitert und Gültigkeit und Dringlichkeit über den Augenblick hinaus zementiert. Der Blick der Kamera kann ein voyeuristisch-intimer oder auch ein beobachtend-distanzierter sein und bestimmt so die Perspektive des Rezipienten mit.

Die präsentierten Werke zeigen also sowohl die Vielfalt der zeitgenössischen Kunst der Minderheit, als auch die Vielfalt des Mediums selbst. Sie zeigen aber auch, wie sehr Kunst mit politischem Aktivismus verschmelzen kann, ja muss, wie politische Aktion schließlich selbst zu Kunst wird und ihren Geltungsbereich so erweitert. Die Künstler der Ausstellung gehen mit den Möglichkeiten der Videokunst auf unterschiedlichste Weise um – dokumentarisch wie Tamara Moyzes, symbolistisch wie Delaine le Bas, oder abgründig-charmant wie Alfred Ullrich. Allen gemein ist eine mal mehr mal weniger implizite Auseinandersetzung mit Stereotypen, mit Klischees und konventionalisierten Bildern, welche sie sich mittels Videokunst auf vielfältige und zugespitzte Art und Weise zu eigen machen – sei es in radikaler Kritik und Verweigerung, als auch in individueller Aneignung oder expressiver Überbetonung.

Alfred Ullrich (Deutschland)
Alfred Ullrich macht „Kunst mit und gegen die Gesellschaft“. Seine Arbeit kreist um die Frage, in welchem Verhältnis sich die (deutsche) Gesellschaft zu den Sinti und Roma befindet. Seine Erfahrung: Ohne Provokation ist es schwer, Stellungsnahmen zu erwirken. Also zwingt er provokant, aber auch immer bitter-charmant, den Betrachter Position zu beziehen. VIDEO.ART.ACTIVISM. zeigt die Dokumentation der Bier-Performance VON
 OTTAKRING
 INS
 NEU(E)
 HIMMELREICH. Die Ottakringer Brauerei 
legt Wert auf ein “trendy” Erscheinungsbild -

basierend 
auf Tradition. Aber: die
 Brauerei 
hat 
auch 
eine 
Arisierungsgeschichte, die
nicht
 zur Zufriedenheit aller nach dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet wurde. Diese Lücke zwischen historischen Fakten und der
heutigen
Selbstdarstellung der Brauerei hat Alfred Ullrich zu seiner Performance inspiriert.
 
Tamara Moyzes (Tschechische Republik)
Als jüdische, in der Slowakei geborene und in Prag lebende Roma weiß Tamara Moyzes um das Gefühl des exkludiert-werdens, des immer wieder Fremd-Seins, der transnationalen, festgewachsenen Vorurteile – und der Perspektiven, die sich aus dieser Außenposition ergeben. Sie stellt oft sich selbst in das Zentrum ihrer Arbeiten. Bei Moyzes prallen divergierende Welten bitter-komisch aufeinander (INTEG(R)ACE 2011). Es scheint, als ziehe sie ein Vergnügen aus dem Aufenthalt und der Auslotung von Grenzbereichen, dem Beben, wenn sie die verschiedene, sich gegenseitig widerspreche Realitäten aufeinanderprallen lässt. In MAMKO MOJA / FOLK SONG (2011) wird die Kamera zum reinen Aufzeichnungsinstrument, das kommentiert, indem es eben nicht kommentiert. Die Arbeit hat slowakische und tschechische Volkslieder mit rassistischem Hintergrund - und beschwingter Melodie zum Inhalt. Romakinder einer Segregationsschule in Předlice singen gemeinsam ein antiziganistisches Volkslied, das zum schulischen Standartrepertoire gehört. Der rassistisch-kontroverse Text wird als selbstverständlich genommen, nicht weiter erklärt – statt dessen verlässt Moyzes sich erfolgreich auf die unbezwingbare Wirkung der schieren Abbildung.
 
Delaine Le Bas (GB)
Delaine Le Bas lotet Projektionen und Stereotypen aus. Ihre Arbeiten muten alptraumhaft an - trotz, oder auch wegen der leuchtenden Farben, der überbordenden, detailversessenen Dekoration. Sie schafft psychedelische Wunderwelten in der Tradition von Lewis Carroll und lässt alles heimelig-gemütliche kippen und pervertieren. Le Bas Installationen und Videos thematisieren die antiziganistischen Klischees, die magischen Zuschreibungen – und zugleich exorzieren sie sie. Drehort von Chactonbury Ravens (2009) ist Chactonbury Ring, ein auf einer Anhöhe gelegenes Buchenrondell und beliebtes Ausflugsziel – und nachts angeblich ein Ort okkulten Treibens. Die Legende besagt, dass Chactonbury Ring vom Teufel geschaffen wurde und er dort beschworen werden kann. Delaine Le Bas macht diese Mythen, die indirekt mit dem Antiziganismus zusammenhängen zur Basis für eine Mischung aus einem, in absoluter Schwärze endenden Spaziergang eines Pärchens, Rotkäppchen und okkulten Beschwörungsversuchen. Am Ende hört man nur mehr keuchendes Atmen, Raben krächzen, ein paar Feuer lodern, eine alte Dame lacht inmitten ihres Blumengartens.
 
András Kállai (Ungarn/GB)
András Kállai stammt aus Ungarn und lebt in Großbritannien. Seine Skulptur FAT BARBIE wurde beim ersten Roma Pavillon der Biennale in Venedig 2007 gezeigt. FAT BARBIE ist ein, an die Venus von Willendorf erinnernder Frauenfleischberg, auf dem der debil lächelnde Kopf einer Barbie thront. Auch viele seine (Video)Arbeiten haben deformiertes, grotesk zweckentfremdetes Spielzeug, häufig Barbies zum Inhalt. Barbies, das personifiziert-perfekte, gesunde, ja, geradezu arische, das sich selbst reproduziert, ohne fruchtbar zu sein. VIDEO.ART.ACTIVSM zeigt die BARBIE SERIES: In einem Video dreschen sich, in sozialistisch anmute Uniformen gekleidete Barbies einander höflich lächelnd mit gigantischen Hämmern auf den Kopf. MARCHING BARBIES lässt sie marschieren - eine Armee der Perfektion, begleitet von johlendem Geklatsche. Und wir werden Zeugen eines Barbie-Vollwaschprogramms, das einerseits an unser heteronormativ-bürgerliches Weichgespült denken lässt und dann, bei längerer Betrachtung, wenn die Beine sich mehr und mehr verknoten und schließlich dürr nach oben ragen, grausam an die Bilder von Auschwitz erinnert: Duschkammern und Tote-Menschen-Berge.

Andre Jenö Raatzsch (Ungarn)
ist Künstler und Kulturwissenschaftler, Kunst- und Kulturvermittler mit dem Lebensmittelpunkt Berlin. Er hat an zahlreichen internationalen Ausstellungen, unter anderem dem ersten Roma-Pavillon PARADISE LOST in Venedig 2007 teilgenommen. Raatzsch arbeitet bevorzugt im Feld der kulturellen Vermittlung und interessiert sich für Aufgabe und Rolle der Kunst in emanzipatorischen Entwicklungen und ist Ko-Autor des zweiten Kataloges der Galerie Kai Dikhas ORTE DES SEHENS 2. Raatzsch experimentiert mit den technischen Anfängen des Mediums: Sein (Digital-)Film zeigt eine Textil-Rolle aus aneinander gemalten Bildern. Dieser „Film“ wird zwischen den Betrachtern sichtbar, indem der eine die Rolle hält und der Andere ihn abwickelt. Es entsteht das bewegte Bild - die Vorstufe des Films. Doch während Raatzsch mit seiner kleinen Textil-Skulptur eine Verbindung zwischen den Betrachtern herstellt, zeigt die sichtbare Bildfolge dann Assoziationen des gegenteiligen Vorgangs: Das Schweigen einer Trennung, eine einsame grüne Figur, die auf der Straße liegt, schließlich anonyme Füße einer Fußgängerzone, eine Art Grab. 

VIDEO.ART.ACTIVISM.
Zeitgenössische Positionen der Sinti und Roma in der Videokunst
András Kállai . Delaine Le Bas . Tamara Moyzes 
Andre Jenö Raatzsch . Alfred Ullrich

22. Februar bis 12. April 2013.
Eröffnung: Donnerstag, 21. Februar 2013, 19 bis 21 Uhr.

back